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Tagesgeschäft Schwulenverfolgung

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FOTO: ZEIT.DE

zeit.de22.8.2018

In den Sechzigern schickte der Richter Klaus Beer Homosexuelle in den Knast. Viele Berufskollegen fällten solche Urteile. Beer ist der einzige, der heute darüber spricht.

Im Sommer 1965 betritt der 39-jährige Wilhelm G., ein stadtbekannter Kleinkrimineller, das Bratwurststüble am Ulmer Bahnhof. Darin wartet wie abgemacht Walter S., 69 Jahre alt, etwas gebrechlich. Die beiden Männer haben sich die Nacht zuvor beim Roten Kreuz kennengelernt. Dort verbrachten sie die Nacht, beide sind seit Jahren obdachlos.

Der Alte überzeugt den Jungen, "ihm zur Verfügung zu stehen". So steht es in den Gerichtsakten. Sie betreten die Toilette der Kneipe, entkleiden sich und vollziehen "Schenkelverkehr". Der Alte zahlt dem Jungen zehn Mark. Als sie die Toilette verlassen, werden sie festgenommen. Ein Spitzel hat sie beobachtet.

Wenige Wochen später stehen sie vor dem Ulmer Amtsgericht. Die beiden Männer werden zu zwei Monaten und zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Der Richter, der darüber entscheidet, heißt Klaus Beer und ist 30 Jahre alt. Seine Urteilsbegründung ist eine halbe Schreibmaschinenseite lang, Tagesgeschäft.

Der Fall ist einer von rund 100.000, in denen Männer zwischen 1949 und 1969 aufgrund des Paragrafen 175, des Antischwulenparagrafen, verurteilt worden sind. Darin stand: "Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft." Dieser Paragraf gilt heute als Unrecht. Diese Einsicht liegt aber keineswegs so weit zurück, wie man meinen könnte. Zwar wurde er schon 1969 abgeschafft, 1994 gestrichen, doch erst im September 2017 unterzeichnete der Bundespräsident ein Gesetz zur Entschädigung der Opfer. Doch was ist mit den Tätern? Wer ist überhaupt Täter, wenn die Tat rechtens ist? Das ist bislang kaum aufgearbeitet worden.

FOTO: ZEIT.DE

Gegen die Menschenwürde

Die Geschichte von Klaus Beer ist eine der institutionalisierten Schwulenverfolgung in der Bundesrepublik. Aber auch eine von Schuld, Einsicht und dem Mut, sich dem Urteil der Öffentlichkeit zu stellen. Eine Geschichte von Gerechtigkeit und was es heißt, Unrecht zu begehen, während man es eigentlich besser weiß.

Beer ist heute Richter im Ruhestand, 85 Jahre alt. Er sitzt in seinem Wohnzimmer im schwäbischen Leonberg, am Rande einer Neubausiedlung. Beer ist ein großer, breiter Mann. Er spricht langsam und nachdrücklich. Um ihn herum stehen massive Bücherwände, durch die Tür ins Arbeitszimmer blickt man auf noch mehr Bücher, über die AfD etwa, dazwischen Gerichtsunterlagen und Familienfotos. Auf dem Wohnzimmertisch hat Beer Akten ausgebreitet: Aufsätze, vergilbte Zeitungsausschnitte und seine alten Urteile.

"Der Bundestag hat meine Arbeit als Verletzung der Menschenwürde klassifiziert", sagt er. "Und das ist richtig so." In vier Fällen hat Beer insgesamt sechs Menschen nach dem Paragrafen 175 verurteilt. 1951 wurde das neue Strafgesetzbuch bestätigt. 1955 entschied die Europäische Kommission für Menschenrechte, der Paragraf verstoße "offensichtlich" nicht gegen die Menschenrechtscharta. Dort werden Geschlecht, Ethnie oder Religion als schützenswert genannt, nicht aber die sexuelle Orientierung.

1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen 175 als grundgesetzkonform. Die deutsche Rechtsprechung war sich einig, also folgte die deutsche Beamtenschaft. Und mit ihr auch Klaus Beer.

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